Sonntag, 30. August 2015

Über die Alltagstauglichkeit Elektroakustischer Musik - Ein Abend mit Live-Filmmusik

Über die Alltagstauglichkeit Elektroakustischer Musik - Ein Abend mit Live-Filmmusik

Manchmal gibt es Erkenntnisse, die sich als solche gar nicht gleich offenbaren. Am Samstag, dem 7.Juli 2012 fand so etwas statt, im Berliner "Arsenal"-Kino.

Unter dem Titel
"Pieces for the Archive": Live Composition by Eunice Martins and Mehmet Can Özer
wurden stumme Kurzfilme live mit Ton versehen: Die Berliner Komponistin und Pianistin Eunice Martins, die auch für die Filmauswahl verantwortlich zeichnet, spielte auf einem z.T. präparierten Flügel und einem kleinen Harmonium, der türkische Komponist und Musiker Özer nahm die Klänge des Gespielten über ein Mikrophon auf und transformierte sie mit Hilfe computergestützter Live-Elektronik.

Neun Kurzfilme aus den Jahren 1921 bis 1976 wurden durch die unter der Bezeichnung "Live-Komposition" firmierenden Klänge zu neuem Leben erweckt. Der erste, "Susan Through Corn" ist noch ein Tonfilm nach live gespielter Ouverture. Danach setzte das Duo wieder ein. Gewichtigster Punkt auf der Abendzeitachse: Ein 17minütiger Film über eine Schwenkbrücke ("Railroad Turnbridge" von Richard Serra), die abwechselnd Zügen und Schiffen die Passage freigibt. Durch sparsames und niemals lautes Vertonen des Schwarzweißopus, zeigen Martins und Özer mit ihrer Musik die Zerbrechlichkeit der menschlichen Versorgung, obwohl deren Wege aus schwerstem Metall gebaut sind.
Von Film zu Film wurde durch eine Art musikalischer Conférence übergeleitet. Das Spektrum der anfallenden Vertonungen reichte von sehnsuchtsvoller Raumschaffung bis hin zu trockener Sequenzeriteration, die aber nie in Starrheit versank.

Der Abend wurde zu einer Lehrstunde erfolgreicher Musikfusion. Eunice Martins, die sich als Stammpianistin des Arsenalkinos um das Neuerstehen von Stummfilmen seit Jahren einen Namen macht, hat einen unverwechselnbaren Stil, der in offener Tonalität jederzeit einen überraschenden Sprung in völlige Dissonanz erlaubt. Sie vollbringt das Kunststück, dass trotz dieser Offenheit nie ein Eindruck von Blutleere oder gar Beliebigkeit entsteht.

Die bis heute eher stiefmütterlich behandelte elektronische bzw. elektroakustische Musik erfuhr durch Mehmet Can Özer eine (in der Werbung übrigens schon lange übliche) Demonstration ihrer Praxistauglichkeit, sie wurde durchaus vor aller Ohren massentauglich; dies besonders übrigens durch die Tatsache, dass die Klänge, traditionellen Instrumenten oder elektronischen Equipment entstammend, von lebendigen Musikern hervorgebracht wurden. Ähnliche Klänge werden in Kinovorstellungen eigentlich schon lang eingesetzt, allerdings dann oft nicht als Musik wahrgenommen. Mehmet Can Özer musste in der anschließenden Diskussion klarstellen, dass er eigentlich keine Klangaufnahmen oder Samples im Sinne der musique concrète, sondern hauptsächlich "Real Time" erzeugte Klänge einsetzt, dies zu einem großen Teil improvisatorisch, aber durchaus klangbewusst, also nicht rein zufällig.

Hartgesottene Fans zeitgenössischer elektroakustischer Tonkunst haben wahrscheinlich an diesem Abend nichts wirklich neues vernommen, darauf kam es aber gar nicht an. Es wurden elektronisch generierte Klänge in den Betrieb der Filmmusik eingewoben, mal begleitend, mal im Vordergrund, Özer machte klar, dass es keiner eindeutigen Tonhöhen bedarf, um Musik zu machen, seine Klänge ließen keinen Zweifel daran, obwohl im traditionellen Sinne manchmal durchaus "geräuschhaft".

Die disziplinübergreifende, aber politisch unkorrekte Stilvereinigung ergab einen Spannungsbogen, der den ganzen Abend hielt, weil beide Akteure aufeinander hörten und uneitel ein gemeinsam hervorgebrachtes Klanggeschehen möglich machten. Der Synergieeffekt ergab einen sicheren und souveränen Vortrag, der nicht aufgesetzt wirkte im Sinne eines "Ich-mache-es-anders", sondern stets die Neugier wach hielt. Der im Publikum anwesende Musiker Torsten de Winkel äußerte sich über die Klangvielfalt der Liveelektronik, die oft überraschte, aber nie unpassend war.

Filmmusik ist im musikalischen Sinne immer Epigonenwerk gewesen, sie muss auf bewährtes zurückgreifen, und das ist auch ganz richtig so, zeigt sie doch etwas über die Alltagstauglichkeit von Tonkunst jedweder Art.
Mehmet Can Özer und Eunice Martins haben durch eine sehr von persönlichem Stil geprägten, aber der Sache Filmmusik dienenden Präsentation bewiesen, dass es nicht nur die Scholastik autistischer Elfenbeinturmbewohner auf deutschen Sommernuniversitäten ist, die die Musikentwicklung vorantreibt, sondern auch die Musikpflege für den täglichen Gebrauch, der Ausbau des Neuen für ein breiteres Publikum ohne Vorbildung. Das durchaus begeisterte Publikum kam zwar gestern mehrheitlich aus den Bereichen "Musik" und "Film", der Abend wäre aber dazu angetan gewesen, auch davon unbelastete Zuschauer zu faszinieren. Gedient wurde gleichermaßen den Gebieten "Neue Musik" und "Experimentalfilm".

Man kann hoffen, dass dieses Beispiel Schule macht und die Musikentwicklung endlich aus den üblichen oberlehrerhaften Positionen wie E und U oder einem neurotischen Atonalitätszwang herauskommen kann. Schließlich ist das ein freies Land hier.

(Michael Hoeldke)

Mehr Info: http://www.eunicemartins.eu/

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