Montag, 31. August 2015




Maria Scharwieß - Organistin gegen das Grau

Einmal in der Woche spielt sie, die Kantorin der Nathanael-Kirchengemeinde in Berlin-Friedenau, immer so rund eine Stunde, manchmal mehr, manchmal weniger, aber immer am Samstag. Maria Scharwieß ist dort seit 1979 angestellt.

Viele Kantoren veranstalten regelmäßige Kurzkonzerte, etwa unter dem Motto „30 Minuten Orgelmusik“ oder „Orgelbesinnung“; hier präsentieren sie, was sie die Woche über arbeiten, üben, studieren; hier zeigen sie ihre musikalische Persönlichkeit, ihre Interessen, ihren Geschmack.
Maria Scharwieß hat ihre wöchentlichen Orgelmusiken schon immer genutzt, außer der traditionellen Literatur etwas mehr Farbe in das evangelische Grau des Kirchenmusiklebens zu bringen. Für sie ist es normal, dass nichts auf der Welt normal ist. Maria Scharwieß war eine der ersten in Berlin, die einen Synthesizer in einer Kirche erklingen ließ, es gab Bach damals. Ausgerechnet in Nathanael, die Gemeinde galt vielen als reaktionär, als ein Hort des Gottgegebenen, des Unveränderlichen. Aber es gab auch Befürworter ihrer Schritte, die bis weit vor die Tür des üblicherweise zugewiesenen Gärtchens führten.

Heute wagt sie sich viel weiter vor. Sie spielt Jazz, allein und mit Gastmusikern, Popmusik, Folklore und das, was man üblicherweise unter kirchlicher Orgelmusik versteht, es gibt kaum musikalische Grenzen. Maria Scharwieß ist ein offener Mensch, ist geistig flexibel: Bitter nötig in Zeiten sterbender Kirchen, die in ihrer frömmelnden Isolation ersticken.

Ihre Orgelabende finden vor einem treuen Anhängerkreis statt, man nimmt gerne auf der Orgelempore Platz, so kann man sie auch spielen sehen, die Finger gleiten über die drei Manuale, ihr Pedalspiel hat etwas leichtes, die Schwerkraft kann Maria Scharwieß offenbar wenig anhaben. Die Schukeorgel hat einen zusammenhängenden Prospekt, so fällt die Platzwahl nicht so schwer, man hört fast überall die Stimmen so, wie Maria Scharwieß sie registriert und balanciert.

Neunzehn Uhr. Zu Beginn des Abends kommt sie durch eine andere Tür als die Zuhörer, eine Tür dicht bei der Orgel. Sie hat ein Ansagemikrophon, erläutert die Musik, die sie gleich spielen wird. Oper, Songs, Renaissance; jeder Abend hat ein  eigenes Motto. Beliebt sind die Zurufkonzerte. Man äußert einen Wunsch, Komm lieber Mai, Yesterday oder der Triumphmarsch aus Aida. Sie dreht sich um, setzt sich an die Orgel. Man bemerkt, wie wuchtig das Instrument ist, die Organistin davor: Ein gespannter Augenblick der Einsamkeit.
Maria Scharwieß beginnt manchmal leise, manchmal legt sie auch richtig los. Sie schleift bisweilen Töne an wie ein Hammondorganist. Sie harmonisiert Kirchenlieder 4-10 stimmig. Wer da aus scholastischen Gründen die kirchenmusikalische Nase rümpft, muss schon völlig unsensibel sein, um nicht nach kurzer Zeit einzusehen, dass es mehr als nur eine musikalische Welt gibt, Maria Scharwieß kennt sie offenbar alle, auch die traditionelle. Denn sie kann polyphon improvisieren, ganz lege artis, spielt die ersten vier Stimmen manualiter, dann kommt als Höhepunkt das Thema im Pedal, behende, mit traditionellem Laufwerk in den Fingern, stimmig, routiniert, immer vital, ohne jede Erstarrung.

Man weiß manchmal nicht genau, welchen Weg eine ihrer Improvisationen nimmt, manchmal weiß sie es selbst noch nicht, man will fragen: „Hast Du Dich verlaufen?“
Hat sie nicht. Sie verliert nie den Zugriff auf die Musik. Sie kann rasante Tonartwechsel wie bei Hindemith spielen, sie jazzt schon mal einen Choral, mit vielen blauen und geschmierten Noten, aber nie schmierig. Auch wenn sie sich manchmal ganz weit hinaus wagt, sie findet immer nach Hause. Sie baut Brücken zu alter, zu neuer Musik.

Und das wichtigste: Der Spaß, den das Musizieren ihr macht, überträgt sich auf die Zuhörer, die Füße wippen oft, neulich musste ich mich selbst bremsen, um nicht vernehmlich mitzusummen. Denn Maria Scharwieß hat die Gabe, cantabile auf einer Orgel zu spielen. Sie kennt die Grenzen, die das Instrument hat, und sie wird gut fertig damit. Was bei vielen jazzenden Organisten wie ein eislaufender Elefant wirkt, bei Maria Scharwieß funktioniert das.
Das meiste spielt sie auswendig oder nach Gehör, eherne Orgellehrer würden manchmal von illegalem Tonsatz reden, aber das darf man hier nicht: Die Scharwieß hat eine mitreißende, eine sehr basisnahe Musikalität, die verkündet: Alles, was ich hier spiele, ist auch so gemeint.

Maria Scharwieß’ Orgelabende können vielerlei Gestalt annehmen: Konzert, Andacht, Best Of oder Workshop. Die Spanne reicht weit, von spontaner musikalischer Äußerung bis zu dezidierter Interpretation.

Und wenn sie mal wieder ein paar neue Harmonien unter eine bekannte Melodie wie „Maria“ aus „West Side Story“ oder den Gefangenenchor legt, weiß man: Das darf keiner so machen. Außer ihr.

Wenn es richtig gut läuft, dann lächelt auch der liebe Gott. Sogar, wenn man nicht an ihn glaubt.
(Michael Hoeldke)



Mehr Info:


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen