Mittwoch, 10. August 2016

Pfeifendünkel - Plädoyer für Digitalorgeln (Eine traurige Orgel-Glosse)



Es herrscht Dünkel in der Welt der Orgeln, wie überall in der Musik. Bei den Recherchen für meine Sendungen auf HR2 konnte ich mich dem gar nicht entziehen. Selbst bei Künstlern von höchsten Graden sind Ressentiments gegenüber Kollegen und Musikrichtungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Und gewissermaßen haben sie alle ihre Berechtigung, die Künstler, die Richtungen, und auch die Ressentiments dagegen.
Jedes Thema ist geeignet. Wenn man sich für etwas entscheidet, entscheidet man sich gegen etwas anderes. Diese Ablehnung zeigt sich bei manch einem nur durch stilles Nichterwähnen, bei anderen wird man bei einem Gespräch in eine bestimmte Richtung lanciert, und dann gibt es Zunder: Gegen Ligeti, gegen Schlagzeug-Register, gegen Taizé, gegen Jazz auf der Orgel. Die Palette ist breit, jeder fordert sein Privat-Zölibat. Alle wettern!

Aber alles hat seine Grenzen, besonders, wenn es an die Verhinderung normaler kirchlicher Abläufe geht. Ich bin einige Dutzend Male im Jahr nebenberuflich als Organist unterwegs, häufig in Krankenhäusern, wo ich ziemlich beliebt bin: „Endlich passiert was im Spitals-Zwangstacet!“ In den dortigen Kapellen finden sich umständehalber kleinere Instrumente, oft elektronische Orgeln. Wenn die betagt sind (25-30 Jahre), sind die metallenen Bauteile oxydiert: Defekte Tastenkontakte sorgen dafür, dass nicht alle Töne, die ich spiele, auch erklingen. Schmutz, der in die Ritzen zwischen den Klaviertasten gefallen ist, sorgt für Hänger (Töne, die nicht ausgehen). Die Registertaster knacken oder funktionieren zum Teil gar nicht. Die Fußschweller sprechen nur unzuverlässig an. Es ist eine Strafe, auf solchen Instrumenten seinen Dienst zu versehen, geschweige denn, etwas aus der Literatur vorzuspielen.

Mein Lieblingsbeispiel: In einer Krankenhauskapelle in Wannsee befindet sich die dortige Ahlborg-Orgel in besonders beklagenswertem Zustand. Eine Reparatur kommt nicht in Frage, die Kosten würden den (Rest-)Wert des Instruments übersteigen, und nach drei Jahren wäre die Orgel in schlimmerer Kondition als im Augenblick, weil die Reparaturen Flickwerk wären; denn es gibt keine Originalteile mehr, der Reparateur müsste herumtricksen, das ist fast nie eine gute Lösung. Ein neues Instrument (5000,- bis 7000,-) ist mehr als fällig. Der Krankenhaus-Überbau stellt sich quer, was Finanzierung angeht.

Ich wandte mich an das Evangelische Konsistorium. Von dort schrieb mir einer der dortigen Ober-Kirchenmusiker einen zweiseitigen Brief, in dem er mir die Nichtzuständigkeit dieser landeskirchlichen Behörde darlegte, gleichzeitig aber auch ein erschreckendes Zeugnis  seiner Haltung gegenüber solchen elektronischen Instrumenten abgab. Er verwies, dass es im Besteben der Landeskirche läge, nur Pfeifenorgeln zu fördern und meinte, dass es in der betreffenden Krankenhauskapelle eher angebracht sei, eine kleine Pfeifenorgel zu installieren. Nun mag er ja mit der kirchenmusikalischen Praxis an so unbedeutender Stelle nicht mehr recht vertraut sein. Er schien aber zu meinen, dass er sich über den technischen Stand des elektronischen Hausorgelbaus gar nicht informieren müsse. Für ihn sind und bleiben Elektronische Kirchenorgeln minderwertige Surrogate.

Ein digitale Orgel klingt längst nicht mehr so künstlich wie noch vor zwanzig Jahren, und das hat seinen Grund: Die Töne sind gesampelt, das heißt, man hört Originaltöne, die aufgenommen wurden, und die man für die Tastatur spielbar gemacht hat, Register für Register. Ein Standardinstrument bietet die Auswahl zwischen verschiedenen unterschiedlichen Orgeln (z.B. Barock, Romantik etc.), dazu mehrere Stimmungen (Gleichschwebend, mitteltönig, Werckmeister etc.). Zwar hat man es immer noch mit einem Imitat zu tun, doch handelt es sich bei einem solchen digitalen Instrument durchaus um eine ernstzunehmende Orgel, auf der man sogar mittelgroße Stücke der Orgelliteratur durchaus spielen kann. Man findet neben der genannten Auswahl an verschiedenen Grunddispositionen etwa 30 Register mit allen notwendigen Spielhilfen. All das wusste der Schreiber des freundlichen Antwortbriefes aus dem Konsistorium offenbar nicht, und er meinte, das auch nicht wissen zu müssen.

Zum Vergleich: Eine (gebrauchte) Kleinorgel mit Pfeifen und Gebläse für immerhin 10.000,-€ bietet vielleicht fünf Register, angehängtes Pedal (Achtfuß, also ohne Tiefbass) und hat nur ein Manual. Dadurch hat man keine Möglichkeit, triomäßig zu spielen, d.h. in der Praxis, die Melodie eines Chorals hervorzuheben, indem man sie auf einer anderen Tastatur spielt; die Gemeinde kann dann besser mitsingen. Ein entscheidender Teil des Bach’schen Orgelbüchleins lässt sich darauf auch nicht oder nur unter großen Einbußen spielen, ganz zu schweigen von französischen Romantikern. Dennoch meinte man im Konsistorium, nur eine „wahre“ Orgel sei es wert, „Orgel“ genannt zu werden. Ich bewundere Kompetenz, wo immer sie auftaucht.

Es ist überhaupt nicht in Abrede zu stellen, dass eine Digitalorgel kein Ersatz für ein Pfeifeninstrument in einer großen Kirche sein kann (und auch nicht will). Für eine Krankenhauskapelle mit 40-50 Plätzen ist aber ein modernes elektronisches Instrument die bessere, weil variantenreichere Wahl für bessere Musik. Eine Pfeifenorgel in vergleichbarer Preislage klingt zwar vielleicht voller, aber wegen seiner wenigen klanglichen Möglichkeiten einseitig und im Ergebnis langweilig.

Nun habe ich während meiner Stoffsammlung für meine Orgelsendungen einige bedeutende Vertreter der zeitgenössischen Orgelmusik kennengelernt, die die Kirche oft gegen sich hatten. Allerdings muss man zu Gute halten, dass damals (in den 60ern) eine musikalische Revolution stattfand, also echte Umwälzungen in Komposition und Orgelbau, damit kann man schon mal anecken. Man hatte es mit einer Musik zu tun, die wenig gewohntes bot und die trotzdem höchst kunstfertig war, was man beweisen musste. Dazu kommt bei Kirchens immer die Angst dazu, dass sich etwas ändern könnte.

In meinem Fall ging es einfach darum, eine Krankenhauskapelle mit einem geeigneten Instrument für gottesdientliches Spiel und ab und zu ein kleines Konzert auszustatten. Ich weiß sehr wohl um den Wert und den Klang einer großen Kirchenorgel, ganz besonders, wenn ich selbst mal darauf spielen darf. Aber ich sehe nicht ein, dass in kleinen Kapellen ein Zwang zu Minimalismus, ausgedrückt in den ewig gleichen fünf Registern und einem Bass, dem schlicht eine Oktave fehlt. Dazu kommt, dass, wenn man den Wünschen im Konsistorium nachkäme, das Projekt in noch weitere Ferne rücken würde, da ein Pfeifeninstrument sehr viel teurer wäre.

Ich glaube, ich bin jetzt wieder ein Stückchen besser instruiert, warum es mit der Musik in Kirchen abwärts geht. Denn ich hatte ja bei meinem Schriftwechsel niemanden von der Geistlichkeit vor mir, dem man ja eine gewisse musikalische Unwissenheit zu billigen mag, sondern einen vorgesetzten Musiker des Kirchenkreises.

Dünkel erdrückt notwendigen Pragmatismus.
©hoeldke2016

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